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„Nirgendwo ist der Körper die bloße Oberfläche des Wesens, der unberührte Strand ohne Spuren, die Natur.“, schreibt die Mode-Wissenschaftlerin Irene Antoni-Komar zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie wirft die Frage auf, ob es Ende des 19. Jahrhunderts einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Körperlichkeit gab, die in Mode und Kunst thematisiert wird. Das Ideal des Körperlichen ist ein Ideal, das keine Spuren des Lebens und des Arbeitens offenbaren darf, makellos und gesund erscheinen muss. Kann hier etwa von einem Aufbruch gesprochen werden? Als ein Mitverursacher dieses möglichen Aufbruchs galt der Fotograf Nick Knight. Ende der 90er Jahre setzte er in seinen Fotografien körperlich behinderte Models gekonnt in Szene und stellte so das weit verbreitete, propagierte Bild von perfekter Makellosigkeit der „unperfekten“ Körperlichkeit in perfekter Inszenierung gegenüber.
Körperlichkeit rückt Ende des 19. Jahrhunderts stärker in den Blickpunkt. Dies zeige sich laut dem Sportsoziologen Volker Rittner in einer „Ästhetisierung der körperlichen Erscheinung“. Bekleidung, Kosmetik, Fitness, diszipliniertes Essverhalten, aber auch drastischere Eingriffe in die Natur des Körpers wie die ästhetisch-plastische Chirurgie stellen nur wenige Möglichkeiten dar, seinen Körper zu gestalten. Es entstand eine neue Leitfigur: der „homo aestheticus“, woraus sich ein regelrechter Kult entwickelte. Deutlich wird dies unter anderem durch ein gesteigertes Interesse an sportlichen Aktivitäten.
Aber was verursachte diesen aufsteigenden Kult um die ästhetische Erscheinung? Eine Ursache sei ein Umdenken hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Körpers. Es entwickeln sich völlig neue Freiheitsgrade in Bezug auf die körperliche Gestaltung. Der menschliche Körper kann vielfältig und individuell geformt werden und gilt fortan nicht mehr als Schicksal der Natur. Vielmehr ist es die eigene Verantwortung und die Individualität jedes Einzelnen, die verantwortet, wie der Körper durch Form, Farbe und Funktion gestaltet wird. Somit ist der Körper zum Produkt und Symbol von Leistung, Selbstdisziplin, Kreativität und Modernität geworden. Dies ermöglicht eine soziale Unterscheidung anhand der körperlichen Erscheinung.
Betrachtet man die historische und die gegenwärtige Körperlichkeit, so lässt sich der Prozess des Wandels aus unterschiedlichen Perspektiven erklären. Unter anderem spielen die „Distanzierung“ und „Disziplinierung“, aber auch die „Inszenierung“ und die „Thematisierung“ des Köpers eine wichtige Rolle. Alle vier Begrifflichkeiten umrahmen den Prozess des Verschwindens und der Wiederkehr des Körpers, wobei sich die Auffassung des Körpers als Produkt sowie als Produzent von Kultur herauskristallisiert. Wenn es in der damaligen Zeit die Kleidung ist, wodurch der Mensch seinen Körper formt und modelliert, so steht in der heutigen Zeit der menschliche Körper selbst als Gestaltungsobjekt im Mittelpunkt.
Eine Betrachtung der sozio-kulturellen Entwicklung zeigt die Kleidung einst durch Verhüllung als Distanzierung zum Körper und zum Geschlecht, aber auch eine Disziplinierung des Körpers, indem sie den Körper zum Medium der bürgerlichen Ordnung werden läßt. Weiter geht die Entwicklung über das Zeitalter der Technisierung. Rationale Handlungslogiken setzen sich durch, was zu einer Vorstellung vom Körper als Maschine und somit mehr und mehr als Objekt führt und ein mechanistisches Körperbild entstehen läßt. Als der Körper ausgehenden vom 19. Jahrhundert als ausschießliches Arbeitinstrument nicht mehr zufriedenstellt, fängt der Mensch wieder an, die Welt sowie Gefühle über den Körper wahrzunehmen. Als anwesend-gegenwärtige und eigene Wirklichkeit wird die neu wahrgenommene Körperlichkeit wiederentdeckt. Mit der „Wiederkehr des Körpers“ entsteht an diesem Wendepunkt die Idee einer gesunden Lebensweise. Symbol der gesellschaftlichen Erneuerung ist der nackte Körper. Das Interesse am „natürlichen“ Körper wächst in dieser Zeit.
Diese Entwicklung reicht bis zum Ende der Kultur der Nachkriegszeit in den 1960er Jahren, wo es zu einem sogenannten „radikalen Schub der Entblößung“ kam. Dieser Schub bildet einen bedeutenden Bestandteil der Moderne und gleichzeitig eine kulturelle Grundlage des 20. Jahrhunderts.
Mit dem Rückgang materieller Sorgen und mit dem wachsenden Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung ist gegenwärtig der Körper selbst, wie eingangs erwähnt, ein Gestaltungsprojekt, das vielfältig und individuell stilisiert werden kann.
Der Körper wird zum Symbolträger der Erlebnisgesellschaft und zum Verwalter seiner eigenen Subjektivität. Er ist in der Lage, sein Innenleben selbst zu manipulieren. Nicht mehr das „Über-Leben“, sondern vielmehr das „Er-Leben“ steht nun im Mittelpunkt.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts bezieht sich das Schönheitsideal weniger auf den bekleideten, als auf den nackten Körper, wodurch es eine völlig neue Qualität bekommt. So scheint es nicht mehr unmodern zu sein, „falsche“ Kleidung zu tragen. Jedoch werden jene, die sich scheinbar nicht um ihren Körper kümmern zu Benachteiligten. Die Redewendung „Kleider machen Leute“ wirkt daher nicht mehr aktuell. Folglich stellt sich doch die Frage, ob eine Umformulierung dieser Redewendung zu „Körper machen Leute“ angebracht wäre?
Bildquelle:
Aimée Mullins, fotografiert von Nick Knight,
in: Zeitmagazin, 5. Februar 1998
http://www.bildwissenschaft.org/own/journal/img/upload/8e540864013c4a3a5b79c4138dc89bb2.jpg (03.06.2010)
Literaturquelle:
Antoni-Komar, Irene (2001): Moderne Körperlichkeit: Körper als Orte ästhetischer Erfahrung (S. 16-27)
Internettipp zum Thema:
http://www.ted.com/talks/lang/ger/aimee_mullins_prosthetic_aesthetics.html
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